Beschreibung von Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 218
Bibliographische Beschreibung
Überblickbeschreibung
Limburger Evangeliar
Dem Anathema auf Folio 1r zufolge befand sich das Evangeliar im 12. Jahrhundert in einem Kloster Limburg, das wohl als die von Kaiser Konrad II. (1024-1039) 1025 gegründete Benediktinerabtei an der Haardt identifiziert werden muß. Zu einer solchen Stiftung gehörte auch die Ausstattung mit kostbaren Handschriften mit den Texten für die Feier der Liturgie. Konrads Vorgänger, der deutsche König und spätere Kaiser Heinrich II. (1002-1024) z.B. bedachte den Dom des von ihm errichteten Bistums Bamberg mit einer großen Zahl von kostbaren Codices, die er in der Schreib- und Malschule der Reichenau in Auftrag gegeben hatte. Ob Konrad an diese Tradition anknüpfen wollte, indem er seiner Klosterstiftung ein Reichenauer Evangeliar aus seinem Besitz übergab (Salier 1992), ist allerdings nicht zu belegen. Um eine Bestellung Konrads für diesen Anlaß kann es sich auf keinen Fall gehandelt haben, da die Handschrift stilistisch schon zu Beginn des Jahrhunderts entstanden sein muß.
Textredaktion, Stil, Ikonographie und Motivik des Limburger Evangeliars sind typisch für die Reichenau. So stimmt nicht nur die Textfassung der vier Evangelienberichte von Leben, Sterben und Auferstehung Jesu - einschließlich der ungewöhnlichen Plazierung des Vorwortes zum Matthäusevangelium und der Leseordnung des Capitulare evangeliorum - weitestgehend mit derjenigen im Evangeliar Ottos III. (996-1002) in München (Bayer. Staatsbibl., Clm 4453) überein, sondern auch die Art der Textillustration (Mütherich 1978). Einerseits war man um eine erstaunlich korrekte Zuordnung von Text und Bild bemüht, ohne die sich daraus ergebenden Probleme des "Lay-out" zufriedenstellend lösen zu können. Das ganzseitige Bild geht immer dem Bericht voraus, so daß der Text bisweilen auf der Mitte einer Seite abbricht und erst nach der Illustration auf der folgenden Seite mit der exakt dem Bild entsprechenden Textstelle fortgeführt wird. Andererseits legte man aber auch Wert auf die Einhaltung der historischen Chronologie der Bildfolge, die in unserer Handschrift mit der Geburt Christi beginnt und mit seiner Himmelfahrt abschließt. Da die Himmelfahrt lediglich von Markus und Lukas, nicht aber von Johannes berichtet wird, bleibt nicht nur das letzte Evangelium, sondern hier sogar das des Lukas ohne Illustrationen. Schon das der Reichenauer Ikonographie zugrunde liegende Evangelistar Erzbischof Egberts von Trier (977-993) (Trier, Stadtbibl., Hs. 24) hatte aus dem gleichen Grund die Bebilderung nach der Pfingstdarstellung einstellen müssen.
Sind auch die Ikonographie und viele Motive durch Vergleiche mit Handschriften der Liuthargruppe - benannt nach dem Schreiber des Aachener Evangeliars Ottos III. (Aachen, Domschatz) - in die Tradition dieser Untergruppe der Reichenauer Schule zweifelsfrei einzubinden, so erlaubt sich der Illustrator unseres Evangeliars doch einige Eigenheiten. Die Evangelistenbilder folgen nicht einem einheitlichen Zyklus, sondern verbinden den ruhig sitzend schreibenden (vgl. Dom Hs. 12; Kat.Nr.76) mit dem in Ekstase inspirierten Autor, wie er z.B. auch in dem Münchner Evangeliar Clm 4453 auftritt. Matthäus hat sein Symbol gegen das Bild des thronend wiederkehrenden Christus (secundus adventus) getauscht, der die traditionell mit dem Evangelisten verbundene erste Ankunft Christi in der Geburt im Überzeitlichen wiederholt - Vergleichbares bietet das Matthäusbild des Reichenauer Evangeliars Clm 4454 (München, Bayer. Staatsbibl.). Bei den drei dem Evangelisten entgegentretenden Männern kann es sich eigentlich nur um Vertreter der Vorfahren Christi handeln, mit deren Aufzählung das Matthäusevangelium beginnt. Möglicherweise liegt dieser ungewöhnlichen Ikonographie das Lorscher Evangeliar (Bukarest, Bibl. Centrala) aus der Hofschule Karls des Großen (768-814) als zu variierende Anregung zugrunde, das in einer anderen Handschrift der Reichenau fast wörtlich kopiert wurde (Darmstadt, Hess. Landes- und Hochschulbibl., Hs. 1948). Der Schule motivisch fremd sind die Stadtarchitekturen als Rahmung bzw. Bekrönung eines Evangelistenbildes, die letztlich aus dem Motivschatz der spätkarolingischen Schule von Reims stammen (Rom, Bibel in S.Paolo fuori le mura, und Paris, Bibl. de l'Arsenal, Ms.1171), und einzelne Figuren wie der das Handtuch reichende Johannes bei der Taufe oder der Petrus freundlich umarmende Engel der Himmelfahrt, die erst in einigen der Liuthargruppe verwandten Handschriften wieder auftreten (Brescia, Bibl. Queriniana, Mbr. F II 1; Rom, Bibl. Vaticana, Barb. lat. 711; Padua, Bibl. Capitolare, Evangelistar des Isidor). Virtuos bedient sich der Illuminator der fremden Vorlagen und des Motivschatzes der Schule und streut sie frei über den Bildgrund. Seine Initialornamentik und seine seltsam substanzlosen, in ungewöhnlich bewegte Gewänder gehüllten Figuren sind in der direkten Nachfolge der beiden Evangeliare Ottos III. denkbar, etwa gleichzeitig mit dem Bamberger Tropar (Staatsbibl., Lit.5).
Autor des Textes: Ulrike Surmann
Zustand und Zusammensetzung
Schrift und Hände
Lateinischer Text in braun-schwarzer frühromanischer Minuskel, überwiegend in Gold rubriziert; Auszeichnungsschrift: Capitalis Rustica; Initialen: Uncialis, Capitalis Quadrata; in den Vorworten und im Capitulare evangeliorum ein- und zweizeilige Initialen in Minium; in den Capitula zweizeilige Initialen in Gold; Textmajuskeln in Gold;
Buchschmuck
- Mehrzeilige Initialen aus Knollenblätterranken in Gold mit gespaltenem, mit Minium gefülltem Buchstabenkörper und Schattierung in Grün und Blau sowie anschließender Textzeile in Goldunziale; Initialzierseiten mit vegetabiler und ornamentaler Rahmung sowie großen, wie oben beschriebenen Rankeninitialen mit Flechtwerk in Deckfarben; das Q zu Beginn des Lukasevangeliums mit großer, muschelblättriger Blüte (109r); Kanontafeln und Miniaturen in Deckfarben mit Gold, letztere mit Goldgrund.
Einband
Einband: Kalbleder mit Blindprägung über Holz; Einzelstempel: verschiedene Rosetten; Streicheisenlinien: Streifenrahmung mit Rautenfüllung, ausgespartes Mittelfeld mit Plattenstempel; auf dem unteren Streifen des Vorderdeckels geprägte Zahl 218 (Mitte 18. Jh.).
Geschichte der Handschrift
Inhaltsangabe
- Av Vermerk über die testamentarische Übereignung der Handschrift von Pfarrer Knott an die Bibliothek des Domkapitels.
- 1r Eintrag des 12. Jhs. Notum sit tam praesentis quam futuri temporis fidelibus hunc librum sacrosancti evangelii. Labore ac diligentia cuiusdam sacerdotis et monachi huius cenobii hoc parvo scemate decoratum. Et sanctorum Laurentii martyris, Pantaleonis, Mercurii, Leonis papae sanctarumque virginum XI [darüber ein M in deutlich hellerer Tinte] reliquiis venerabiliter insignitum. Proinde omnibus hunc ipsum librum a praesenti Linburgensi ecclesia fraudulenter seu violenter abalienare nitentibus. Vel in vadimonio exponere volentibus. Sanctorum quibus oblatus est offensionem. Et divinam denuntiamus et optamus ultionem. Quia et si sacrosancti evangelii codices auro vel gemmis ornati interdum solent invadiari. Sancti tamen qui olim vincula et carceres pro XPisto sunt perpessi. In scriniis feneratorum rursus dedignantur captivari.
- 1v Leer.
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2r-11r
Titel: Prologe und Capitula zum Matthäusevangelium.
- 2r Titel: Brief des Hieronymus an Papst Damasus I. Incipit: B(EATISSIMO PAPAE DAMASO) Stegmüller 595
- 4r Autor: Hieronymus P(LURES FUISSE) Stegmüller 596
- 6r Titel: Brief des Eusebios an Carpinianus E(usebius Carpiniano) Stegmüller 581
- 7r Autor: Pseudo-Hieronymus S(ciendum etiam) Stegmüller 601 Zum Inhalt der Prologe vgl. Dom Hs. 12.
- 7v Vorwort zum Matthäusevangelium M(atheus ex Iudaea) Stegmüller 591
- 8v Capitula zu Matthäus
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18v-70v
Titel: Matthäusevangelium.
- 18v Evangelist Matthäus mit thronendem Christus in einer Mandorla mit der Beischrift IHCUS XPISTUC und Vorfahren Christi.
- 19r Initialzierseite Incipit: INCIPIT EVANGELIUM SECUNDUM MATHEUM. L(IBER GENERACIONIS).
- Die folgenden Kapitelanfänge aller Evangelien werden jeweils mit einer Gold- oder Rankeninitiale eingeleitet. Miniaturen: 21r Geburt Christi und Verkündigung an die Hirten. 22r Anbetung der Könige. 24r Taufe Christi. 31r Heilung des Aussätzigen. 34r Heilung der Blutflüssigen/Heilung der Tochter des Jairus. 35r Heilung des Blinden.
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70v-105r
Titel: Markusevangelium
- 70v Vorwort M(ARCUS EVANGELISTA DEI) Stegmüller 607
- 71v Capitula.
- 73r Leer.
- 73v Evangelist Markus.
- 74r Initialzierseite Incipit: INCIPIT EVANGELIUM SECUNDUM MARCUM. I(NITIUM EVANGELII).
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105v-161r
Titel: Lukasevangelium.
- 105v Vorwort L(UCAS SYRUS ANTIOCENSIS) Stegmüller 620
- 106v Capitula.
- 108v Evangelist Lukas.
- 109r Initialzierseite Incipit: INCIPIT EVANGELIUM SECUNDUM LUCAM. Q(UONIAM QUIDEM).
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161v-203v
Titel: Johannesevangelium.
- 161v Vorwort Incipit: H(IC EST IOHANNES EVAN gelista) Stegmüller 624
- 162r Capitula.
- 163v Evangelist Johannes mit einem über dem Kopf gebogenen Schriftband, auf dem die Anfangsworte seines Evangeliums verzeichnet sind.
- 164r Initialzierseite Incipit: INCIPIT EVANGELIUM SECUNDUM IOHANNEM. I(N PRINCIPIO).
- 217v Laut Jaffé/Wattenbach (1874) ausradiertes Reliquienverzeichnis, das heute kaum noch lesbar ist. Auch die freundlicherweise von Doris Oltrogge (Fachhochschule Köln) angefertigten Reflektographie-Aufnahmen brachten kein Ergebnis.
- 218r Leer. Rückseite auf Papier aufgeklebt.
Bibliographie
- Jaffé/Wattenbach 1874, S. 97f.
- W. Vöge, Eine deutsche Malerschule um die Wende des ersten Jahrtausends, Trier 1891 (Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Ergh. VII), S. 145f.
- S. Beissel, in: ZChrK 13 (1900), Sp. 68f.
- Beissel 1967, passim
- Kdm Köln 1/III, 1938, S. 394f., Nr. 8 (Lit.), Abb. 320f.
- P. Bloch, Die beiden Reichenauer Evangeliare im Kölner Domschatz, in: KDB 16/17 (1959), S. 9ff.
- Bloch/Schnitzler II 1970, passim
- F. Mütherich, Ausstattung und Schmuck der Handschrift, in: F. Dressler u.a., Das Evangeliar Ottos III. Clm 4453 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bglbd. der Faksimile-Ausgabe, Frankfurt 1978, passim
- Schulten 1980, S. 23ff., Nr. 39
- Ornamenta 1985, I S. 426, Nr.C11 (A. von Euw)
- Hoffmann 1986, S. 329
- Salier 1992, S. 300, Vitrine 7 (S.von Roesgen/K. und M. Weidemann)
- Handschriftencensus 1993, S. 690f., Nr. 1162
- F. Mütherich/K. Dachs (Hgg.), Das Perikopenbuch Heinrichs II. Clm 4452 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bglbd. zur Faksimile-Ausgabe, Frankfurt/Stuttgart 1994, passim
- I. Siede, Zur Rezeption ottonischer Buchmalerei in Italien im 11. und 12. Jahrhundert, St. Ottilien 1997 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, 39. Ergbd.), passim.
Quellenangabe
- Glaube und Wissen im Mittelalter. Katalogbuch zur Ausstellung. München 1998. S. 357-358 (Ulrike Surmann) [Digitaler Volltext]