Antiphonar aus der Stiftung des Brictius Eberauer (pars hiemalis) (Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 222)
Bibliographische Beschreibung
Überblickbeschreibung
Antiphonare aus der Stiftung des Brictius Eberauer
Die fünf Offiziums-Antiphonare aus der Stiftung des Brictius Eberauer sind laut Eintrag in Dom Hs. 224 um 1520 im Skriptorium der Kölner Kreuzherren angefertigt worden, deren Gemeinschaft ihren Sitz von 1307 bis zur Auflösung des Klosters im Jahr 1802 in der Streitzeuggasse hatte. Die Handschriften enthalten die vom Sängerchor (Schola cantorum) vorzutragenden Antiphonen (Rahmen- und Kehrverse) und Responsorien (Wechselgesänge) des Stundengebetes (Offizium). Eine große Schrift ermöglicht bessere Lesbarkeit für mehrere Sänger, so daß die Gesänge eines gesamten Kirchenjahres auf zwei Bände verteilt werden mußten. Drei Exemplare gleichen Inhalts wurden im Winterhalbjahr (pars hiemalis) vom ersten Advent bis einschließlich Ostern benutzt; von den entsprechenden Halb-Bänden des Sommerhalbjahrs (pars aestivalis) von Pfingsten bis zum 26. Sonntag nach Pfingsten sind nur noch zwei erhalten.
Für das Antiphonar hat sich grundsätzlich kein eigenes ikonographisches Programm herausgebildet. Trotz unterschiedlich reicher Ausstattung der Eberauer-Handschriften wurde zumindest der Beginn jedes der Antiphonare mit einer Zierseite und derjenige des 'Proprium de sanctis' (Heiligenfeste) mit einer historisierten Initiale (außer bei Dom Hs. 225) hervorgehoben. Wie groß der Spielraum bei der Umsetzung von Text in ein Bild ist, wird beim Vergleich der Miniaturen am Beginn des 'Proprium de tempore' (Herrenfeste und Sonntage) in den drei Bänden für das Winterhalbjahr deutlich. Der Anfang des Responsoriumstextes Ecce dies veniunt (Jr 23, 5) suggeriert mehrere Bildthemen: Gerechtigkeit, das Kommen des Heilands und die Herkunft Christi aus dem Geschlecht Davids werden im Text angesprochen, das Weltgericht (Dom Hs. 221), die Verkündigung der Geburt Christi (Dom Hs. 222) und der zu Gott betende David (Dom Hs. 223) sind im Bild dargestellt. Grundsätzlich stimmen die Handschriften in der strukturellen Gliederung durch den Buchschmuck überein, auch wenn Dom Hs. 222 die meisten historisierten Initialen unter den Winterbänden aufweist und Dom Hs. 223 die Ast- oder Goldschmiedewerkinitialen durch aufwendigere Federzeichnungs-Initialen ersetzt.
Im Buchschmuck der fünf Codices sind zwei unterschiedliche Formensprachen zu erkennen. Vier der fünf Handschriften (Dom Hs. 221-224) stehen stilistisch der Kölner Tafelmalerei nahe, insbesondere dem Meister der Ursulalegende, und ähneln dem Stil des sog. Kölner Schwarze-Augen-Meisters (vgl. Diözesan Hs. 519, Kat.Nr.96). Die schlanken Gestalten sind zeitgenössisch-modisch gekleidet. Ihre in feiner Binnenzeichnung gestalteten Gesichtszüge wirken durch ihre runden Wangen und hohe Stirn puppenhaft. Die Figuren bewegen sich in detailliert geschilderten Landschaften oder Architekturen, die durch einen tiefliegenden Horizont und Luftperspektive eine tiefenräumliche Wirkung erhalten. Demgegenüber greift die Buchmalerei in Dom Hs. 225 die Formensprache der Miniaturen der Brüder vom gemeinsamen Leben auf, die der holländischen Buchmalerei in ihrem gedrungenen Figurentyp und der schematischeren Raumdarstellung verwandt ist. Die Ähnlichkeit mit den Handschriften aus dem Skriptorium der Brüder vom gemeinsamen Leben aus den Jahren 1512 und 1514 (Kempen, St. Mariae Geburt, Lektionar H 2, Evangelistar H 3; Berlin, Staatsbibl. PK, Psalter Ms. theol. lat. fol.231) läßt vermuten, daß Dom Hs. 225 von einem Illuminator angefertigt wurde, der zunächst bei dieser Laiengemeinschaft arbeitete und anschließend in das der gleichen Frömmigkeitsbewegung (Devotio moderna) angehörende Kloster der Kreuzherren eintrat, wo er seine Tätigkeit als Buchmaler fortsetzte (Kirschbaum 1972, S. 267ff., 279ff.).
Der Stifter der Handschriften, Brictius Eberauer, besaß als Priesterkanoniker und Inhaber von einem der acht Kapitularplätze eine einflußreiche Position im Kölner Domkapitel (H.H. Roth, in: E. Kuphal [Hg.], Der Dom zu Köln, Köln 1930, S. 289). Nur das Kollegium der Kapitularkanoniker, bestehend aus siebzehn Edelherren und acht Priesterkanonikern, hatte bei der Wahl des Domdechanten das aktive Wahlrecht und war so gegenüber den übrigen Domkanonikern privilegiert. Eberauer erhielt die 'admissio' als Kapitularkanoniker, die Zulassung zum Besitz von Kanonikat und Pfründe, am 17. April 1510, nachdem er sich vor Gericht gegen Valentin Engelhart von Geltersheim durchgesetzt hatte. Seine 'presentatio', die persönliche Vorstellung vor dem Domkapitel, fand am 17. Oktober 1510 statt, und die Zulassung zum 'locus capitularis' mit Besitzergreifung und Vereidigung erfolgte schließlich am 5. November 1511 - nach der vorgeschriebenen Wartezeit (Exspektanz) von einem Jahr und einem Monat. Bis spätestens zu diesem Zeitpunkt mußte Eberauer sowohl den verlangten Nachweis über seine eheliche Abstammung geführt als auch seine vollgültige Promotion als Doktor oder Lizentiat der Theologie oder der Rechte bewiesen haben. An der Kölner Universität war er nicht immatrikuliert, doch wird er in drei Urkunden von 1518 als 'Doctor decretorum' bezeichnet (E. Kuphal, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln 44 [1929], S. 75). Eberauer starb am 5. Dezember 1518möglicherweise an der Pest, obwohl er spätestens Ende Oktober aus Köln geflüchtet war und sich deshalb bei der Domdechantenwahl am 5. November 1518 hatte vertreten lassen (F. Gescher, in: JbKGV 11 [1929]). Dom Hs. 224 wurde erst zwei Jahre nach seinem Tod fertiggestellt.
Allen fünf Handschriften ist ein identischer Vermerk über die Stiftung vorangestellt (s.u.). Eberauer ließ beide Seiten des Chores mit Büchern und Buchpulten zum Gebrauch durch die Vikare ausstatten: Hiermit sind wohl die Antiphonare gemeint. Weiter veranlaßte er die Weihe des Altars des Hl. Kreuzes und der hl. Anna, für den er auch ein unbenanntes Buch - möglicherweise ein Missale -, einen Kelch, Paramente, Kerzen sowie nicht näher deklarierte ceteris ornamentis stiftete und eine täglich zu lesende ewige Messe einrichtete. Dem gleichen Altar galt die Stiftung des Degenhard Witte von Coesfeld im Jahre 1525 (Dom Frühdruck 217, Kat.Nr.98). Schließlich verfügte Eberauer einige Bereicherungen des täglichen Stundengebets bzw. der sonntäglichen Liturgie.
Für den Kölner Domchor, dessen 104 Sitze umfassendes Chorgestühl mit den 72 Kapitelmitgliedern und den am Chordienst ebenfalls teilnehmenden zahlreichen Vikaren und Kaplänen voll besetzt gewesen sein mochte, waren drei Antiphonare wohl kaum ausreichend. Bei der spätbarocken Umgestaltung des Hochchors um 1770 wurden je drei Lesepulte pro Seite aufgestellt (Kdm Köln 1/III, 1938, S. 157; R. Kroos, in: KDB 44/45 [1979/80], S. 83). Die Anzahl der älteren Pulte ist nicht überliefert. Bei sechs Pulten hätten je sechzehn bis achtzehn Sänger Einblick in ein Buch gehabt. Vorausgesetzt, daß dies der spätmittelalterlichen Situation entspräche, müßten ursprünglich sechs vollständige Antiphonare vorhanden gewesen sein (siehe Dom Hs. 263 und Diözesan Hs. 149, Kat.Nrn.91, 92).
Überblickbeschreibung aus: Glaube und Wissen im Mittelalter. Katalogbuch zur Ausstellung, München 1998, S. 481-486 (Johanna C. Gummlich)
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