Signatur König 37
Inv. 2017/0295
Stundenbuch des Jean de Derval
Lateinisches Stundenbuch nach dem Brauch von Rom
Willem Vrelant und Werkstatt (?)
Brügge, um 1450-1465
Material
Pergament, 135 × 96 mm, 247 Blätter, Lagen: 112, 28+2, 3-48+1, 5-108, 114, 12-138, 14-156, 16-188, 198+1, 20-218, 228+1, 23-268, 278+8, 286+1+6, 298; Schriftspiegel: 73 × 45 mm; einspaltig; 17 Zeilen; Liniierung in Rot (Kalendar) und Dunkelviolett, im Kalendar doppelte Liniierung beidseits der Sonntagsbuchstaben.
Ausstattung
Lateinischer Text in dunkelbrauner Bastarda, rubriziert; einzeilige Initialen in Blau mit rotem und Gold mit blauem Fleuronné, teilw. ausstrahlend, zu Beginn der Sätze; zweizeilige Initialen in Gold auf blauem oder mauvefarbenem Feld mit Füllung in der jeweils anderen Farbe zu Beginn der Psalmen, Antiphonen und Orationen; auf den Seiten mit einem Textbeginn Zierleisten in Gold und Blau am linken Textrand, an den Enden Federäste, besetzt mit goldenen Blättern und jeweils einer zweifarbigen Blüte; 3-8-zeilige, meist historisierte Initialen oder mit Dorn- und Kleeblattranken auf Goldgrund zu Beginn der einzelnen Horen, Evangelienlesungen, des Gebets zur Vera icon und der Suffragien; zum Beginn der Offizien, Evangelienlesungen und Suffragien 20 ganzseitige Miniaturen auf Einzelblättern gegenüber der Zierseite mit dem Textanfang, abwechselnd farbig und in Grisaille, mit farblich passenden Federrankenbordüren, Akanthus, Blüten, Früchten und teilweise mit Drôlerien.
Einband
Zeitgenössisches (?) dunkelbraunes Leder über Holz; auf Vorder- und Rückseite je doppelt verwendeter Plattenstempel-Dekor mit umlaufender Efeuranke und mittlerer Textzeile ora pro nobis sancta dei genitrix zwischen Medaillonranken, gefüllt mit: Hirsch, Löwe, Greif, Einhorn, Nereide, Affe, Lamm Gottes, Nix, Engel (vgl. W. H. J. Weale, Bookbindings and Rubbings of Bindings in the National Art Library, London 1894-98, Nr. 305 und 306; P. Verheyden: Banden met blinddruk bewaard in het Museum Plantin-Moretus, in: Tijdschrift voor Boek- en Bibliotheekwezen, 4.1906, S. 33-35, fig. 4); eventuell von Lievin Stuvaert (vgl. Ludwig Ms. IX 7; Plotzek 1982, Abb. 138); zwischen den beiden Plattenstempeln Reihe aus 5 quadratischen Stempeln mit Fleur de lis-Dekor; Rücken mit 4 Bünden; Silberschließe, Lasche verloren; im Innenspiegel altes Pergament, vorne in Tinte »No. 600[0], 19 grandes, 16 petites miniatures« (19. Jh.?); hinten in jüngerer Schrift Lagenzählung und Korrektur auf 20 Miniaturen; neuer Buchkasten.
Vorbesitzer
Wohl für Jean de Châteaugiron genannt de Malestroit (ca. 1425-1482), Seigneur de Derval, hergestellt, dessen Motto Sans Plus in mehreren Bordüren erscheint (vgl. Dupic 1935; Mauger 2013; Mercier 2015); laut Angaben im Katalog von Bloomsbury: Francis Fry (1803-1886), ein Quaker und Schokoladenfabrikant, der ein großer Bibelsammler war (Christoper de Hamel u.a., Disbound and Dispersed: The Leaf Book Considered, Chicago 2005, S. 8-9); Bloomsbury Book Auctions, Sale 141, London, 21. Juni 1990, lot 122 (Property of a Lady); H.P. Kraus, One Hundred Distinguished Books and Manuscripts, Kat. 188, New York 1991, Nr. 15; Jörn Günther.
Inhalt
1r-12v Kalendar: Jede Zeile ist gefüllt, wenn auch einige Heiligenfeste um einen Tag verschoben wurden, wenn ihr Platz für einen anderen Namen gebraucht wurde. Laut Bernard Bousmanne handelt es sich wohl um ein modifiziertes Brügger Kalendar (Bousmanne 1997, S. 217-219, 311). Darauf verweisen nicht nur die Feiern für den Patron von Brügge Donatianus am 30. August (Translatio) und 14. Oktober (rubriziert), sondern auch die – allerdings nicht hervorgehobenen – Feste des hl. Basilius (14.6.) und der hl. Walburga (4.5. und 6.8.), denen in Brügge eigene Kirchen geweiht sind. Eine Reihe weiterer Heiliger werden besonders in nahen Gent verehrt: Gudula (8.1.), Eleutherius (20.2.), Landoaldus (19.3. und 10.6.), Ursmar (18.4.), Gudewaldus (6.6.), Gaugericus (11.8.), Remaclus (3.9.), Rumoldus (26.10), Piatus (Translatio am 29.10.) und Winnocus (5.11.). Typisch für diese Kalendare ist auch die besondere Hervorhebung Johannes des Täufers, der mit Vigil, Fest (24.6.), Oktav und rot markiertem Gedenktag der Enthauptung (29.8.) bedacht ist, und des Thomas von Canterbury am 29. Dezember mit einer Oktav am 5. Januar. Eine Reihe von rot markierten Festen verweist auf Flandern, z.B. die translatio des Bischofs Eligius von Noyon und Tours (25.6.) sowie der Tag des Bischofs Nicasius von Reims (14.12.). Der Norden Frankreichs ist mit Bischof Dionysius von Paris am 8. (eigentlich 9.) Oktober vertreten. Auch die Festtage der mit Suffragien bedachten Heiligen sind teilweise rot hervorgehoben: Erzengel Michael (29.9.), Johannes der Täufer (s.o.), Petrus (29.6., mit Oktav), Christophorus (25.7), Katharina (25.11.) und Maria Magdalena (22.7.). Bernhardin von Siena wird nicht aufgeführt. Es hat nicht den Anschein, als seien diese Kalendare für einen konkreten Auftraggeber komponiert. Vielmehr werden sie in den Stundenbüchern der Vrelant-Werkstatt Standard gewesen sein, auch wenn sich dadurch nicht erklären lässt, warum sie alle sehr ähnlich, aber niemals vollkommen identisch sind.
13r Vacat.
13v-18v Heilig-Geist-Offizium. 13v ganzseitige Miniatur: Pfingsten; in der Bordüre der betende Stifter. 14r Zierseite D(omine labia mea aperies).
19r Vacat.
19v-25v Heilig-Kreuz-Offizium. 19v ganzseitige Miniatur: Kreuzigung. 20r Zierseite D(omine labia mea aperies).
26r Vacat.
26v-31v Evangelienlesungen. 26v ganzseitige Miniatur: vier Evangelisten. 27r Zierseite I(n principio erat verbum).
32r Vacat.
32v-91r Marienoffizium (Rom), ab Laudes jeweils mit Zierseite und historisierter Initiale beginnend. 32v ganzseitige Miniatur: Verkündigung. 33r Zierseite: Matutin. D(omine labia mea aperies), 48v Laudes: Heimsuchung, 58r Prim: Initiale [Geburt Christi] herausgeschnitten, 62r Terz: Verkündigung an die Hirten, 66r Sext: Anbetung der Könige, 69v Non: Beschneidung Christi, 73r Vesper: Kindermord, 79v Komplet: Flucht nach Ägypten, 84r-91r Adventsoffizium, beginnend mit einer Zierseite, und Varianten für andere Zeitabschnitte des Kirchenjahres. 84r M(issus est Gabriel).
91v-92v Vacat.
93r-118v Passionsoffizium, Gebetsstunden jeweils beginnend mit einer historisierten Initiale auf einer Zierseite. 93r Matutin: Gebet am Ölberg, 99v Laudes: Judaskuss, 103r Prim: Verhör Christi, 105r Terz: Geißelung, 107r Sext: Kreuztragung, 109v Non: Kreuzigung, 111v Vesper: Kreuzabnahme, 114v Komplet: Grablegung.
119r-120v Vacat.
121r-144r Oratio Dominica anagogice, Pierre d’Ailly (1350-1420; u.a. Bischof von Cambrai) zugeschrieben, mit Ablassversprechen für 40 Tage. 121r P(ater Noster): Vera icon (M. W. Bloomfield [u.a.], Incipits […] including a Section of Incipits of Works on the Pater Noster, Cambridge [Mass.] 1979, no. 8648; deutsche Übersetzung: Rudolf Damerau, Das Herrengebet, Gießen 1964, S. 175f.). 126r-144r Gebete, die während der Messfeier und zu anderen Gelegenheiten zu beten sind, z.T. mit Ablassversprechen, z.B. 129r Omnibus hanc orationem dicentibus inter elevationem corporis XPI et tercium Agnus Dei conceduntur duo milia annorum indulgencie a pp Bonifacio a(d) s(upplicationem) peticionem Philippi regis francorum (André Wilmart: Auteurs spirituels et textes dévots du moyen âge latin, Paris 1932, S. 378, Nr. 10). Das Gebet zwischen Wandlung und Agnus Dei war sehr verbreitet. König Philipp von Frankreich habe es bei Papst Bonifaz erbeten und einen Ablass von 2000 Jahren erwirkt (Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, 2. erw. Aufl. d. Ausg. v. 1923, Darmstadt 2000, S. 251).
144v Vacat.
145r-169v Bußpsalmen mit einleitendem Gebet Oratio dicenda ante septem psalmi penitenciales. Deus misericordie et veritatis suppliciter deprecor clemenciam tuam 147r Vacat. 147v ganzseitige Miniatur: Büßender König David. 148r Zierseite. Bußpsalmen D(omine ne in furore tuo). 162r-166r Litanei (u.a. Dionysius, Mauritius, Remigius, Germanus, Ludwig, Ivo und Genovefa; nicht identisch mit Baltimore W 220).
170r Vacat.
170v-209v Totenoffizium. 170v ganzseitige Miniatur: Beisetzung eines Verstorbenen. 171r Zierseite. D(ilexi quoniam exaudiet): Beisetzung.
210r/v Vacat.
211v-238r Heiligensuffragien, jeweils mit ganzseitiger Miniatur auf dem Verso eines eingebundenen Einzelblatts mit leerem Recto und mit 5-zeiliger Initiale auf einer Zierseite beginnend. 211v Trinität, 213v Michael, 215v Johannes Bapt., 217v Petrus, 219v Christophorus, 221v Sebastian, 223v Antonius Abbas, 225v Bernhardin von Siena (1380-1444; 1450 heiliggesprochen), 227v Katharina, 229v Maria Magdalena, 231v Anna Selbdritt, 233v Barbara, 235v Margarete, 237v Apollonia.
238v-247v Kalendertabellen mit Gebrauchsanweisung (französisch), geschrieben von einer anderen, aber zeitgenössischen Hand; mit mehrfacher Datierung: ceste annee Mil iiiic lxv (fol. 238v, 245r und 246v). 238v-244v Tabelle mit der exakten Dauer der Monate (z.B. 29 Tage, 5 Stunden, 12 Minuten für den Januar 1465) zur Berechnung des Neumonds, angelegt für die 19 Jahre des Mondzyklus. 245r-246r Tabelle der Goldenen Zahlen und der Sonntagsbuchstaben für die Ostertermine vom 22. März bis 25. April. 246v-247v Tabelle für die Sonntagsbuchstaben der Schaltjahre.
Literatur
Printed Books and an Illuminated Manuscript (Bloomsbury Book Auctions, Sale 141), London 21. Juni 1990, S. 21-25, lot 122.
H. P. Kraus, One Hundred Distinguished Books and Manuscripts (Kat. 188), New York 1991, Nr. 15.
Bernard Bousmanne, ›Item a Guillaume Wyelant aussi enlumineur‹. Willem Vrelant, Un aspect de l’enluminure dans les Pays-Bas méridionaux sous le mécénat des ducs de Bourgogne Philippe le Bon et Charles le Téméraire, Turnhout 1997, S. 283f.
Jörn Günther Rare Books, Objektbeschreibung, 2005/06.
Roel Wiechers, Willem Vrelant, in: Lexicon van Boekverluchters, 2019 (New York, H. P. Kraus, Kat. 188), online: https://www.bookilluminators.nl/met-naam-gekende-boekverluchters/boekverluchters-w-naam/willem-vrelant/ (17.1.2023).
Ulrike Surmann, Das Stundenbuch des Jean de Derval, Sammlung Renate König X, Reihe »Kolumba« (Bd. 60), Köln 2021. |