Pontificale Cameracense (Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 141)
Bibliographische Beschreibung
Überblickbeschreibung
Pontificale Cameracense
Dom Hs. 141 bildet insofern eine Besonderheit, als sie, im Benediktinerkloster St. Vaast in Arras entstanden, liturgische Bräuche des Doppelbistums Arras-Cambrai enthält. Sie ist also nie in Köln benutzt worden, noch hat sie auf Kölner Traditionen Einfluß ausgeübt. Das wird deutlich, wenn man etwa die Palmsonntagsriten mit kölnischen Quellen vergleicht: Zum einen setzt Dom Hs. 141 eine Stationskirche außerhalb der Stadtmauern voraus - eine topographische Situation, die auf die Kölner Stationskirche dieses Tages, St. Gereon, nicht zutrifft. Zum anderen ist in Köln die Evangelienlesung vom Einzug Jesu in Jerusalem wie im 'Pontificale Romano-Germanicum' mit der Palmenweihe verbunden. Dom Hs. 141 hingegen behält sie einer eigenen 'statio' auf dem Prozessionsweg vor. Die Evangelienlesung zur Palmweihe ist ein ursprünglich in Italien beheimateter Brauch. Wenn Dom Hs. 141 sie zunächst bei einer 'statio' der Palmenprozession einfügt und noch nicht bei der Palmenweihe selbst, so aufgrund eines nur allmählich wirkenden Verschmelzungsprozesses römisch-italienischer und fränkischer Traditionen. Der Ordo zur Königskrönung (Ordo ad consecrandum regem , 153r ff.) wird ergänzt um einen Ordo Romanus ad benedicendum imperatorem (166r ff.). Er gibt sich als römisch aus, indem er den Besuch des Kaisers in der Peterskirche mit Gebet am Petrusgrab vorsieht, kann aber nicht mit einer speziellen Krönung in Verbindung gebracht werden. Beide Ordines sowie der Ordo ad armandum ecclesiae defensorem vel alium militem (171v ff.), die religiöse Zeremonie bei der Investitur des Soldaten als Verteidiger der Kirche, sind Zeugen mittelalterlichen Bemühens, das weltliche Herrschertum dem Schutz und der Vollmacht der Kirche zu unterstellen. Wie schon bei Dom Hs. 138 (Kat.Nr.73) sind auch bei Dom Hs. 141 weitgehend Gebetstexte in die liturgischen Anweisungen eingefügt. Bereits Michel Andrieu hatte in diesem Liber espiscopalis (2v) genannten Pontifikale mit den 'Ordines' und 'Benedictiones', also den bischöflichen Weihungen und Segnungen, ortsspezifische Eigenheiten erkannt. Auf Folio 124v wird im Ordo zur Bischofsweihe der Kandidat unter der "hl. Mutterkirche von Reims" verpflichtet; im Ordo zur Weihe eines neuen Abtes wird auf Folio 134r/v der Name des hl. Benedikt mehrmals hervorgehoben; in der Litanei zur Kirchweihe (56v) werden der hl. Benedikt sowie der hl. Vedastus, der erste Bischof von Arras, kalligraphisch ausgezeichnet und der hl. Gangericus, erster Bischof in Cambrai nach der Verlegung des Bischofssitzes dorthin im Jahr 545, genannt. In Abhängigkeit vom Erzbistum Reims residierte der Bischof von Arras-Cambrai bis 1093 in Cambrai. Kunsthistorische Überlegungen führten Sigrid Schulten zu einer überzeugenden Einordnung des Pontifikale in die Buchkunst des Benediktinerklosters St. Vaast in Arras um die Mitte des 11. Jahrhunderts. Damit ergänzen sich kunstwissenschaftliche und liturgiegeschichtliche Erkenntnisse zu dem Ergebnis, daß die Handschrift im Vedastus-Kloster zu Arras für den Bischof in Cambrai, also für Gerardus (1013-1048?) oder Lietbertus (1049/1059-1076?), geschaffen wurde. Die auf Folio 135r im Text zur Abts-Weihe vorhandene Rasur eines Wortes (sanctae ecclesiae) konnte Michel Andrieu mit Cameracensis (= Cambrai) rekonstruieren; nach der Teilung des Doppelbistums Arras-Cambrai 1093 und der Verselbständigung beider Bischofssitze entfiel ein solcher Hinweis für das in Arras gelegene Benediktinerkloster St. Vaast. Die künstlerische Ausstattung mit zwei großen Miniaturen und zahlreichen, teilweise mit Figuren und Szenen belebten Rankeninitialen wird dominiert von der Tradition der sogenannten franko-sächsischen Buchkunst mit ihren die Ecken betonenden Rahmenkonstruktionen von Bild- und Zierseiten, gefüllt mit Flechtband sowie üppigen Blüten- und Blattmotiven, und zum anderen vom Einfluß des feinnervig vibrierenden Zeichenstils der angelsächsischen Buchmalerei, der sich über St. Bertin in Saint-Omer auf dem Festland ausbreitete. Dieser zeigt sich in den dichten Faltenmustern der Gewanddraperien, aber auch in den wie vom Wind gebauschten Saumzipfeln, deren Bewegtheit das dynamische Gestenspiel der Verkündigungsgruppe zur Segensformel für den ersten Adventssonntag (77v) entspricht. Als Titelbild zur ganzen Handschrift und zugleich als Illustration zum Ordo für die Firmung der Kinder erscheint auf Folio 5v in ikonographischer Anlehnung an die Maiestas Domini die über der Sphaira thronende Muttergottes mit dem als Herrscher gekleideten Jesusknaben. Dieser segnet mit der Rechten und trägt in der Linken das zukünftige Leidenssymbol als vergoldetes Siegeszeichen, während seine Mutter, vergleichbar den Herrscherbildern, den mit einem Goldkreuz bezeichneten Apfel emporhält. Die beide umfassende Mandorla ist zugleich Initiale zum Textbeginn O(mnipotens) und dokumentiert neben der ungewöhnlichen Betonung der Mutter Maria die kompositorische Fähigkeit einer gleichsam in das Wort einbezogenen Visualisierung von dessen heilsgeschichtlichem Inhalt. Unter den mit Initial-Illustrationen hervorgehobenen bischöflichen Segensformeln für das Kirchenjahr bestätigt die Halbfigur des hl. Martin zu seinem Fest (93v) die Entstehung der Handschrift im Norden Frankreichs.
Überblickbeschreibung aus: Glaube und Wissen im Mittelalter. Katalogbuch zur Ausstellung, München 1998, S. 405-408 (Andreas Odenthal/Joachim M. Plotzek)
Bibliographie
Klassifikation |